1. Reinhard Baugart über den Roman Zur begrifflichen Klarung and Abgrenzung ?[. . .] J e mehr Romane ich lese, and jeder Roman ist immer nur einer, aus einer bestimmten Zeit, von dem oder jenem Autor, desto weniger weiß ich, was das ist: d e r Roman. Dann nützt es mir wenig, wenn ich vom frühen Lucács höre, der Roman wäre, ,die Epopoe der gottverlassenen Welt` oder, die Form der transzendentalen Heimatlosigkeit`, wenn ich bei Butor lese, der Roman wäre etwas, durch dessen Vermittlung sich die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit ihrer selbst bewusst werden kann, um an sich Kritik zu üben und sich zu verändern`. Doch schon Robbe-Grillet äußert sich eher sokratisch: ,Wir wissen nicht`, sagt er, ,was ein Roman, ein Roman an sich sein soll. Wir wissen nur, dass der Roman von heute das sein wird, wozu wir ihn heute machen.` Und ein um Jahrzehnte älterer französischer Kritiker, noch ratloser oder listiger oder bescheidener, gibt die Auskunft, der Roman sei ,eine Prosaerzählung von einer gewissen Länge` - eine, wie man zugeben wird, ebenso unumstößliche wie vage Definition, denn nicht einmal über die Länge des Romans weiß sie, mit gutem Recht, irgend etwas Genaues. Da heute der Markt Romane noch immer mehr liebt als bloß Erzählungen - so unvollständig möchten die Leser nicht träumen -, genügen mittlerweile schon hundert Seiten, um für den Verlag, und, wie dieser hofft, auch für Buchhandel and Leser den Gattungsbegriff zu erfüllen. So durchsichtig das ökonomische Interesse solcher Finten auch sein mag, sie besitzen eine historische Legitimität, von der sie möglicherweise selbst nichts ahnen. Zwar lässt sich auf theoretischem Papier auch heute noch verfügen, wo der Begriff story endet, was sich noch Erzählung, was sich Novelle nennen muss, was dagegen den Titel Roman zu Recht trägt, doch da auf alles Erzählte die gleiche Krise drückt, wird es sich auch zunehmend ähnlicher. Was nur heißt: über den Roman und seine zukünftigen Aussichten entscheidet heute zu allererst die Frage, ob in Zukunft überhaupt erzählt werden kann, and wenn ja, dann wie? Womöglich eher fünf als fünfhundert Seiten lang? Doch das, wie gesagt, wäre eine spätere, eine Zusatzfrage. [. . .]" (Reinhart Baumgart, Aussichten des Romans oder Hat die Literatur Zukunft? Frankfurter Vorlesungen, Neuwied und Berlin 1968. Zit. nach dtv-Ausgabe (Bd sr89). München 1970, S.13f.) -Rechtschreibung der Reform angepasst. |
2. Zum Begriff "Roman" Roman" wird oft als ,epische Großform der Neuzeit" (1) bezeichnet. Lange Zeit wurde er nicht anerkannt and musste hinter dem Epos zurückstehen, von dem er sich aber klar abhebt: ,Der Roman stammt vom Epos ab, unterscheidet sich von diesem jedoch äußerlich durch die Prosaform [.. .] und weicht in Stoff, Struktur and Erzähltechnik ab. Zwar kann der Roman wie das Epos ein weitausladendes Weltbild geben; die geschilderte Welt jedoch hat sich geändert; sie ist ,prosaisch` geworden. Entsprechend wandelt sich der Stoff. Die Entwicklung bis 1900 geht im großen and ganzen von zeitlosen Abenteuern zur Schilderung der unmittelbaren Gegenwart, vom Allgemeingültigen zum Individuellen, von der Darstellung des äußeren zu der des inneren Lebens. (Vgl. Cervantes and Proust.)"(2) (1) Fischer-Kolleg Band "Literatur", hrsg. v. H. Stadler und K. Dickopf, Frankfurt /Main 1973, S.162 (2) Ebenda S. 163 Rechtschreibung der Reform angepasst. |
. Arbeitsaufträge und Fragen: |
1. Zum Text von Reinhard Baumgart: a. Welche Schwierigkeiten, die in der Gattung Roman begründet sind, sieht Baumgart? b. Was meint Lukács, wenn er sagt, der Roman sei die "Epopoe der gottverlassenen Welt"? c. Welche Tendenzen zeichnen sich beim heutigen Romanleser ab? 2.Stellen Sie, ausgehend vom zweiten Text, den Roman dem Epos gegenüber. Gemeinsamkeiten und Unterschiede! Berücksichtigen Sie dabei folgende Kategorien: Gegenstand, Intention, Darstellungsart, Darstellungsmittel! 5. Geben Sie einen kurzen Abriss der Geschichte des deutschen Romans vom 18. Jahr hundert bis etwa um 1900! (evtl. als Kurzreferat) 4. Erläutern und grenzen Sie folgende Bezeichnungen gegeneinander ab: Ritter-, Räuber-, Künstler-, Gelehrtenroman, Pikarroman, Schelmenroman, Bildungsroman, Erziehungsroman, Reiseroman - Ich-Roman, Brief-, Tagebuch-, Dialogroman! Welche Gesichtspunkte liegen dieser Differenzierung zugrunde ?
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