Text 1: Thomas Mann: Königliche Hohheit
(o.O., 1961, S.5f)
[. . .] Zwei Offiziere, die Hände in den Schrägtaschen ihrer grauen Paletots, kommen einander entgegen: ein General und ein Leutnant von der Kasernenseite her. Der Leutnant ist blutjung, ein Milchbart, ein halbes Kind. Er hat schmale Schultern, dunkles Haar und so breite Wangenknochen, wie viele Leute hierzulande sie haben, blaue, ein wenig müde blickende Augen und ein Knabengesicht von freundlich verschlossenem Aus- druck. Der General ist schlohweiß, hoch und breit gepolstert, eine überaus gebietende Erscheinung. Seine Augenbrauen sind wie aus Watte, und sein Schnurrbart überbuscht sowohl Mund als Kinn. Er geht mit langsamer Wucht, sein Säbel klirrt auf dem Asphalt, sein Federbusch flattert im Winde, und langsam schwappt bei jedem Schritte der große rote Brustauf- schlag seines Mantels auf und nieder. So kommen sie aufeinander zu. - Kann dies zu Verwickelungen führen? Unmöglich. Jedem Beobachter steht der naturgemäße Verlauf dieses Zusammentreffens klar vor Augen. Hier ist das Verhältnis von alt und jung, von Befehl und Gehorsam, von betagtem Verdienst und zartem Anfängertum, hier ist ein gewaltiger hierarchischer Abstand, hier gibt es Vorschriften. Natürliche Ordnung nimm deinen Lauf! - Und was, statt dessen, geschieht? Statt dessen vollzieht sich das folgende, überraschende, peinliche, entzückende und verkehrte Schauspiel. Der Gene- ral, des Leutnants ansichtig werdend, verändert auf seltsame Weise seine Haltung. Er nimmt sich zusammen und wird doch gleichsam kleiner. Er dämpft sozusagen mit einem Ruck den Prunk seines Auftretens, er tut dem Lärm seines Säbels Einhalt, und während sein Gesicht einen bärbeißigen und verlegenen Ausdruck annimmt, ist er ersichtlich nicht einig mit sich, wohin er blicken soll, was er so zu verbergen sucht, dass er unter seinen Wattebrauen hinweg schräg vor sich hin auf den Asphalt starrt. [. . . ]
Text 2: Max Frisch: Homo faber
(Frankfurt/Main 1967, S. 7)
[...] Wir starteten in La Guardia, New York, mit dreistündiger Verspätung infolge Schneestürmen. Unsere Maschine war, wie üblich auf dieser Strecke, eine Super-Constellation. Ich richtete mich sofort zum Schlafen, es war Nacht.
Wir warteten noch weitere vierzig Minuten draußen auf der Piste, Schnee vor den Scheinwerfern, Pulverschnee, Wirbel über der Piste, und was mich nervös machte, so dass ich nicht sogleich schlief, war nicht die Zeitung, die unsere Stewardess verteilte, First Pictures Of World's Gratest Air Crash In Newada, eine Neuigkeit, die ich schon am Mittag gelesen hatte, sondern einzig und allein diese Vibration in der stehenden Maschine mit laufenden Motoren - dazu der junge Deutsche neben mir, der mir sogleich auffiel, ich weiß nicht wieso, er fiel auf, wenn er den Mantel auszog, wenn er sich setzte und sich die Bügelfalten zog, wenn er überhaupt nichts tat, sondern auf den Start wartete wie wir alle und einfach im Sessel saß, ein Blonder mit rosiger Haut, der sich sofort vorstellte, noch bevor man die Gürtel geschnallt hatte. Seinen Namen hatte ich überhört, die Motoren dröhnten, einer nach dem andern auf Vollgasprobe - Ich war todmüde. .. [...]
E. Hemingway: Der alte Mann und das Meer
(zit. n. Lizenzausgabe Bertelsmann 1959, S.8)
[. . .] Der alte Mann war dünn und hager, mit tiefen Falten im Nacken. Auf den Backenknochen hatte er die braunen Flecken von harmlosem Haut- krebs, den die Sonne durch die Spiegelung auf tropischen Meeren verur- sacht. Die Flecken bedeckten ein gut Teil seines Gesichts, und seine Hände zeigten die tief eingekerbten Spuren vom Handhaben schwerer Fische an den Leinen. Aber keine dieser Narben war frisch. Sie waren so alt wie Ero- sionen in einer fischlosen Wüste. Alles an ihm war alt bis auf die Augen, und die hatten die gleiche Farbe wie das Meer und waren heiter und unbesiegt. "Santiago", sagte der Junge zu ihm, als sie das Ufer emporklommen, von dem das kleine Boot herauf- gezogen wurde. "Ich könnte wieder mit dir fahren. Wir haben groß ver- dient." Der alte Mann hatte dem Jungen das Fischen beigebracht, und der Junge liebte ihn. "Nein", sagte der alte Mann. "Du bist in einem Glücksboot. Bleib bei denen." ...
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zu 1:
Hier haben wir den "olympischen" (Begriff nach Kurz) oder "auktorialen" Erzähler vor uns, der - wie hier -direkte Fragen an den Leser stellt ("Kann dies zu Verwickelungen führen?"), aber auch, als bester Kenner der Situation, die passende Antwort weiß: "Unmöglich". Er gibt seinen Kommentar ("Hier ist das Verhältnis von alt und jung [. . .], hier gibt es Vorschriften".) Nicht immer weiß dieser E r z ä h l e r allerdings, was vom
A u t o r zu erwarten wäre: "Dieser auktoriale Erzähler
ist also eine eigenständige Gestalt, die ebenso vom Autor geschaffen
worden ist, wie die Charaktere des Romans. Wesentlich für den auktorialen
Erzähler ist, dass er als Mittelsmann der Geschichte einen Platz
sozusagen an der Schwelle zwischen der fiktiven Welt des Romans und der
Wirklichkeit des Autors und des Lesers einnimmt. Die der auktorialen
Erzählsituation entsprechende Grundform des Erzählens ist
die berichtende Erzählweise." |
zu 2:
Bereits der kurze Ausschnitt (Romananfang) aus Max Frischs "Homo faber" zeigt, dass der Erzähler in die Welt des Romans gehört: "Er selbst hat das Geschehen erlebt, beobachtet oder unmittelbar von den eigentlichen Akteuren des Geschehens in Erfahrung gebracht. Auch hier herrscht die berichtende Erzählweise vor, der sich szenische Darstellung unterordnet." [...]
Die Ich-Form wird oft als Kunstgriff, der Distanz schafft, [...] eingesetzt.
zu 3:
Bei diesem Textausschnitt wird deutlich, dass der Erzähler sich nicht in die Erzählung einmischt: "Dann öffnet sich dem Leser die Illusion, er befände sich selbst auf dem Schauplatz des Geschehens oder er betrachte die dargestellte Welt mit den Augen einer Romanfigur, die jedoch nicht erzählt, sondern in deren Bewusstsein sich das Geschehen gleichsam spiegelt." [...](Vgl. Stanzel, S.17)
[Rechtschreibung der Reform angepasst.]