1. Adorno
[...]Der traditionelle Roman, dessen Idee vielleicht am authentischsten in Flaubert sich verkörpert, ist der Guckkastenbühne des bürgerlichen Theaters zu vergleichen. Diese Technik war eine der Illusion. Der Erzähler lüftet einen Vorhang: dieser soll Geschehenes mitvollziehen, als wäre er leibhaft zugegen. Die Subjektivität des Erzählers bewährt sich in der Kraft, diese Illusion herzustellen, und - bei Flaubert - in der Reinheit der Sprache, die sie zugleich durch Vergeistigung doch dem empirischen Bereich enthebt, dem sie sich verschreibt. Ein schweres Tabu liegt über er Reflexion: sie wird zur Kardinalsünde gegen die sachliche Reinheit. Mit dem lusionären Charakter des Dargestellten verliert heute auch dies Tabu seine Kraft [...]
(Theodor Adorno)
2. Frank Thiess
[ . . . ] Dass uns heute die reine Erzählung, die sich im Rahmen eines kontinuierlichen Fabelablaufs bewegt, nicht mehr recht genügen kann, beruht auf einem berechtigten Misstrauen gegenüber dem Prädominieren der Fabel, auf die es letztlich niemals ankommt. Andererseits hat dieses Misstrauen zu einer Flucht vor der Fabel geführt, die den Charakter des Romans in ein Gemisch aus Lyrik, Essay und realistischen Situationen auflöst, das die Bildung eines geschlossenen Kompositionsstils verhindert [ . . . ] (Frank Thiess) -Rechtschreibung der Reform angepasst.
3. Paul K Kurz: Das Ende der Fabel
[...] Wenn die Reflexion und denkerische Analyse überhand nimmt, wird die Fabel unmöglich. Das hat schon Hegel vorausgesehen. In einem Zeitalter gesteigerter Bewusstwerdung wird die Fabel zum Problem. Die Fabel läuft als nicht abreißender roter Faden durch das Material des Stoffes, der Personen und Ereignisse. Man hat sinnvollerweise zwischen "Geschichte", englisch "story", und. "Fabel", englisch "plot", unterschieden.
Eine Geschichte ist das Erzählen von Begebenheiten in zeitlicher Folge. Sie fragt, was geschah dann? ?Der König starb, und dann starb die Königin" ist die einfachste Form einer Geschichte. Als höhere Organisationsform heißt die gleiche Geschichte Fabel. Sie stellt über die bloße zeitliche Folge hinaus einen Zusammenhang ursächlicher Art dar. Sie reiht nicht nur Ereignisse; sie bezieht und verbindet sie. Unser Beispiel würde dann ungefähr lauten: "Der König starb, und dann starb die Königin aus Kummer." Das ist eine Märchenfabel. Eine einfach und geradlinig gebaute Romanfabel stellen "Die Wahlverwandtschaften" dar. Sie erzählen ohne Intrige und Verkomplizierung eine Liebe übers Kreuz, die für das eine der beiden Paare tragisch endet.
Eine so schöne Handlungskontinuität, das Spinnen des Erzählfadens, die Bereitung des Knotens und die Entwirrung oder der tragische Schnitt durch den Knoten, gibt es in den zeitgenössischen Romanen nicht mehr. Wie gegenüber dem "Helden", so wurden der kritische Autor und der kritische Leser auch gegenüber der traditionellen Fabel mit Misstrauen erfüllt. Sie ist zu "romanhaft", zu schön und mit allen scheinbaren Zufällen zu folgerichtig und zu glatt, als dass sie das wirkliche Leben widerspiegelte. Diese blauädrig gegliederte Geschichte ist nicht mehr glaubhaft. Das Vielfältige, das Dissiziierte, Unverbundene , das Anonyme, Zufällige, das nicht so sehr Lineare als Feldartige der modernen Wirklichkeitserfahrung fängt die Traditionelle Fabel nicht ein. "Wenn im Roman ein Baby ankommt", bemerkt Edward Morgan Forster ironisch zur durchschnittlichen Fabel, "wirkt es immer wie per Post geschickt. Es wird ,abgeliefert'; eine der erwachsenen Personen geht hin, nimmt es auf und zeigt es dem Leser, worauf es meist im Kühlschrank gelagert wird, bis es sprechen oder sich sonstwie an der Hand lung beteiligen kann."
4. Paul K. Kurz: Stream of consciousness
Die "stream of consciousness" (Bewusstseinsstrom)-Methode gehört heute zu den handwerklichen Mitteln eines jeden Autors. Gegenüber der ursächlich aufbauenden Linearität der traditionellen Fabel ermöglicht diese Methode eine Auswei tung des Erzählfadens zum Erzählstrom, eine Verinnerlichung des Geschehens und die Spiegelung der für alle abstrakten Logiker und Idealisten unbequem eigengesetzlichen Bewusstseinslogik. Das Erzählen vermittels der Wiedergabe des Bewusstseinsstromes ist die letzte Verfeinerung des psychologischen und subjektiven Erzählens. Im Gegensatz zu solch einseitig subjektivem Erzählen strebt heute eine Reihe von Romanautoren - man etikettiert sie gewöhnlich als Vertreter des "nouveau roman" (im fran zösischen Sprachraum vor allem Alain Robbe-Grillet, Michel Butor, Nathalie Sarraute, im deutschen etwa Uwe Johnson, Peter Weiß, Otto F. Walter) - den Aufbau eines möglichst objektiven Erzähl- und Wirklichkeitsfeldes an. Sie schildern ein Romangeschehen, das das Erleben und Bewusstsein einer einzelnen Romanfigur übersteigt. Die sachhafte Beschreibung, das Detail, die Erkundung des wahren Sachverhalts eines Falles, der Wechsel der erzählerischen Standorte und Perspektiven, das Eingeständnis des Nichtwissens treten in den Vordergrund. Gemeinsam ist diesen Autoren das Bewusstsein einer transsubjektiven Wirklichkeit, eine neue Hinwendung zum Objektiven. Sie wissen, dass auch ein gegliedertes und reflektiertes Bewusstsein nicht einfach über das Wirkliche verfügt, dessen Darstellung ihnen auferlegt ist. [ . . .
5.Dieter Wellershoff: Zur Erzählerposition
[ . . . ] (Im modernen Roman wird der Leser) nicht wie im traditionellen Roman vom Erzähler geführt und am Anfang mit den wichtigsten Informationen versorgt, sondern hineingestoßen in einen Fiktionsraum, der sich erst allmählich und vielleicht nie richtig, nie endgültig erschließt, der aber auch keine Fenster, keine Tür in ein sicheres Außerhalb hat. Das war der rationale Komfort, den die traditionelle Erzählerposition, zum Beispiel die Rahmenerzählung, dem Leser bot: Er konnte den Konflikt, das Abenteuer, die Verwirrung aus der überlegenen Distanz, nämlich vom Ende her, vom Standpunkt der erreichten Problemlösung, der wiederhergestellten und bestätigten Ordnung, also mit den Augen der Weisheit oder des Humors sehen. Vorgeführt wurde ihm ein Realitätsausschnitt, der eingebettet blieb im größeren Horizont des Allgemeinen, und der außerdem schon nach bedeutenden und unbedeutenden Elementen, also konventionell, selektiert war, so wie er sich nach einiger Zeit dem Langzeitgedächtnis einprägt. In der literaturgeschichtlich jüngeren Erlebnisperspektive ist dagegen die Subjektivität total gesetzt. Es gibt kein Außerhalb und keine zeitliche Distanz. Alles erscheint so augenblickshaft, ungeordnet und subjektiv, wie die handelnde Person es erfährt. [ . . . ] (Dieter Wellershoff)
6. Paul K. Kurz: Der olympische Erzähler
[ . . . ] Den überlegenen olympischen Erzähler, jenen Erzähler, der seine Helden als wirkliche Gestalten vorstellt und seine fiktive Handlung als wirkliches Geschehen vorgibt, der zugleich die innersten Regungen seiner Helden-Geschöpfe kennt, ihnen ihr Maß an Erziehung, Leidenschaft, Begabung, Freiheit, Erfolg und Tragik zuteilt und ihre Schritte vom ersten bis zum letzten lenkt, diesen Erzähler, der dem Leser alles Was, Wie und Warum klarmachen kann, gibt es im modernen Roman nicht u mehr. Der zeitgenössische Autor verweigert die Erschaffung eines Erzählers, der &ber einer als wirklich vorgegebenen Handlung mit individuellen Menschengestalten thront wie ein olympischer Zeus. Der Erzähler tritt heute nicht mehr als Allwissender eines wirklichen und individuellen Geschehens auf. Die dafür erforderte Naivität des Bewusstseins fehlt ihm. Jenen Aufstieg auf den Erzählerolymp kann und will er nicht mehr leisten. Den Anspruch auf indiskutable Autorität gibt er auf. Wegen dieser Autorität hat man den "olympischen" Erzähler auch den "auktorialen" genannt. [ . . ]
(Paul Konrad Kurz)